Hat der Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht bei der Anordnung des Arbeitgebers zur Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ab dem ersten Tag?

 

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Von Fachanwältin für Arbeitsrecht Anna Fischer      

Grundsätzlich nein! Das Bundesarbeitsgericht hat mit einem Beschluss vom 15. November 2022 zum Aktenzeichen 1 ABR 5/22 entschieden, dass ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates in solchen Fällen nicht per se besteht. Da die Ausübung des Bestimmungsrechts gem. § 5 Abs. 1 Satz 3 EntgFG (Verlangen zur Einreichung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung früher als im Gesetz vorgeschrieben) ausschließlich auf individuellen Besonderheiten des einzelnen Arbeitsverhältnisses beruhen kann, besteht ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG nur dann, wenn der Arbeitgeber hierbei eine selbst gesetzte Regel vollzieht oder der Ausübung dieses Rechts eine solche Regelhaftigkeit zugrunde liegt.

Im zugrunde liegenden Fall stritten die Parteien darüber, ob dem Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG zusteht, wenn der Arbeitgeber von mehreren Arbeitnehmenden mit gleichlautender schriftlicher Anordnung gem. § 5 Abs. 1 Satz 3 EntgFG die Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ab dem ersten Krankheitstag einfordert. Die Arbeitgeberin hatte seit dem Jahr 2018 insgesamt 17 Arbeitnehmenden gleichlautende schriftliche Anordnungen mit dem Inhalt erteilt, dass ab Erhalt des Schreibens für den Arbeitnehmenden die Verpflichtung bestehe, jede Krankmeldung durch ein ärztliches Attest vom ersten Fehltag an der Personalabteilung vorzulegen. Eine Begründung war in dem Schreiben nicht angegeben. Der Betriebsrat war der Ansicht, es handele sich bei diesem Vorgehen um eine Maßnahme mit kollektivem Bezug, die das Ordnungsverhalten der Arbeitnehmenden betreffe.

Die Anträge des Betriebsrates hatten in allen Instanzen keinen Erfolg. Das Bundesarbeitsgericht führte hier insbesondere Folgendes aus:

Zwar betreffe das Verlangen des Nachweises der Arbeitsunfähigkeit in einer bestimmten Form und ggf. innerhalb einer bestimmten Frist zwar grundsätzlich das Ordnungsverhalten der Arbeitnehmer. Ein für die Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG notwendiger kollektiver Sachverhalt sei aber nur gegeben, wenn die entsprechenden Anordnungen des Arbeitgebers regelhaft erfolgen. Dies sei nicht schon deshalb der Fall, weil die Anordnung gegenüber mehreren Arbeitnehmenden gleichlautend und in gleicher Form erfolgen. Ein regelhaftes Vorgehen liege beispielsweise vor, wenn die Anordnung gegenüber allen Arbeitnehmenden, gegenüber einer Gruppe von ihnen oder zumindest immer dann ergeht, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Hiervon sei aber nicht schon allein deshalb auszugehen, wenn die Anordnung gegenüber Arbeitnehmern mit „häufigen Kurzerkrankungen“ oder mit „hohen Fehlzeiten, darunter vielen Einzelfehltagen“ erteilt wird. Eine Regelung liegt vielmehr erst dann vor, wenn die Maßnahme stets nach den gleichen Voraussetzungen, wie bei Erreichen einer bestimmten Anzahl von krankheitsbedingten Fehltagen, getroffen werden würde. Hierzu hatte der Betriebsrat jedoch nichts vorgetragen. Das Bundesarbeitsgericht sah daher kein Recht zur Mitbestimmung gem. § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG.

Fazit:

Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ist zu begrüßen, denn sie ermöglicht dem Arbeitgeber eine entsprechende Handlungshoheit gegenüber Arbeitnehmenden, die häufig kurzerkrankt sind. Solange kein kollektivrechtlicher Bezug besteht, können solche Einzelmaßnahmen ohne Mitbestimmung des Betriebsrates durchgeführt werden. Zwischenzeitlich gilt für die gesetzlich Versicherten das Verfahren zur elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Die vom Bundesarbeitsgericht aufgestellten Grundsätze dürften aber gleichermaßen für das Vorziehen des Zeitpunkts der Verpflichtung gelten, beim Arzt vorstellig zu werden, um sich eine elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstellen zu lassen.

Kann die Einreichung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als Erst- und Folgebescheinigung für einen passgenauen Zeitraum der Kündigungsfrist den ansonsten hohen Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttern?

anna fischer neu

 

 

 

 

 

 

Von Fachanwältin für Arbeitsrecht Anna Fischer

Ja! Das Bundesarbeitsgericht hat sich im September 2021 bereits dazu positioniert, dass die Einreichung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als Erstbescheinigung den ansonsten geltenden hohen Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dann erschüttern kann, wenn die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfasst. Infolge dessen hätte ein Arbeitnehmer konkret vortragen und ggf. beweisen müssen, tatsächlich arbeitsunfähig gewesen zu sein. Nunmehr hat das Arbeitsgericht Neumünster in einem Urteil vom 23. September 2022 zum Aktenzeichen 1 Ca 20b/22 entschieden, dass dies auch dann gelte, wenn die gesamte Dauer der verbliebenen Kündigungsfrist durch eine Erst- und mehrere Folgebescheinigungen abgedeckt wird.

Nach einer arbeitgeberseitigen fristlosen sowie hilfsweise ordentlichen Kündigung machte der Kläger geltend, er sei für den Zeitraum ab Kündigungsausspruch bis zum Beendigungszeitpunkt, mithin fast zwei Monate, arbeitsunfähig erkrankt, so dass Entgeltfortzahlungsansprüche bestünden. Der Arbeitgeber verweigerte die Zahlung entsprechender Entgeltfortzahlungsleistungen. Er bestritt das Vorliegen einer zur Arbeitsunfähigkeit führenden Erkrankung für den genauen Zeitraum bis zum ordentlichen Beendigungszeitpunkt. Das Arbeitsgericht sah die fristlose Kündigung als rechtsunwirksam an, so dass es über die ordentliche Kündigung zu entscheiden hatte. Im Rahmen dieser Beurteilung sah das Gericht einen Entgeltfortzahlungsanspruch für die Dauer der Kündigungsfrist als nicht gegeben an. Der Kläger sei in dem Prozess seiner Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich einer Arbeitsunfähigkeit infolge von Krankheit nicht ausreichend nachgekommen. Die von dem Arbeitnehmer eingereichten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (Erst- und diverse Folgebescheinigungen) haben zwar einen hohen Beweiswert, es ergeben sich jedoch ernsthafte Zweifel am Vorliegen einer Erkrankung, da die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen passgenau die nach der Kündigung noch verbleibende Dauer des Arbeitsverhältnisses abdecken, auch wenn der gesamte Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit erst durch eine Erst- und mehrere Folgebescheinigungen bescheinigt wird. Zur Begründung führte das Arbeitsgericht aus, dass es keinen Unterschied machen könne, ob die Arbeitsunfähigkeit durch eine einzelne ärztliche Bescheinigung (wie in der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts im September 2021) oder durch mehrere Bescheinigungen, von denen eine Erst- und die übrigen Folgebescheinigungen sind, dargelegt wird. Bei den Fällen ist gemein, dass die gesamte verbliebene Zeit des restlichen Arbeitsverhältnisses „passgenau“ abgedeckt wird. Dies gilt jedenfalls dann, wenn, wie im zugrundeliegenden Fall, alle Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen durch die gleiche Ärztin ausgestellt wurden und der Arbeitnehmer direkt im Anschluss an den letzten Tag der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit wieder arbeitsfähig ist und ein neues Arbeitsverhältnis beginnt. Im vorliegenden Fall kam noch hinzu, dass das Ende der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit auf einen Montag fiel und der Arbeitnehmer damit ab Dienstag wieder arbeitsfähig war. Eine derartige „Spontangenesung“ mitten in der Woche sei aus Sicht des Arbeitsgerichts schlicht nicht plausibel und führe dazu, dass der Beweiswert einer entsprechenden Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert ist. Der Arbeitnehmer war infolge dessen dazu verpflichtet, konkret darzulegen und ggf. nachzuweisen, dass er tatsächlich arbeitsunfähig erkrankt war. Dieser Verpflichtung ist er nicht nachgekommen, so dass der Entgeltfortzahlungsanspruch entfallen ist.

Damit bestätigt das Arbeitsgericht Neumünster die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Die Entscheidung ist daher zu begrüßen.

Höheres Gehalt durch gutes Verhandlungsgeschick?

 

 

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Von Rechtsanwalt Manfred v. Gizycki

 

Die Außendienstmitarbeiterin eines Unternehmens der Metall- und Elektroindustrie erhielt bei gleicher Tätigkeit weniger Entgelt als zwei Arbeitskollegen, wovon der eine vor seiner Einstellung darauf bestand, die Tätigkeit gar nicht erst aufnehmen zu wollen, wenn man auf seine hohe Gehaltsforderung nicht eingehe. Die Arbeitgeberin erfüllte diese Forderung. Die Klägerin klagte nun auf die Differenz zwischen ihrem und dem Gehalt des Kollegen, der besser verhandelt hat.

Das Bundesarbeitsgericht betätigte seine bisherige Rechtsprechung, dass allein der Umstand, dass der Arbeitgeber Beschäftigte verschiedenen Geschlechts mit vergleichbarer Tätigkeit unterschiedlich bezahlt, genügt, um die Vermutung einer unmittelbaren Entgeltbenachteiligung „wegen des Geschlechts“ im Sinne von § 22 AGG zu begründen.

Hier hätte der Arbeitgeber Tatsachen vortragen müssen und ggf. beweisen, dass kein Verstoß gegen das Entgeltgleichheitsgebot vorliegt, sondern ausschließlich andere Gründe als das Geschlecht zu einer ungünstigeren Behandlung geführt haben.

Aus Sicht des Bundesarbeitsgerichts genügte hierfür offenbar weder der Verweis auf ein besseren Verhandlungsergebnis noch das Interesse des Arbeitgebers an der Gewinnung des Arbeitnehmers. Das Urteil vom 16. Februar 2023 (8 AZR 450/21) liegt bisher erst als Pressemitteilung vor.

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