Niedersachsen macht die Grippe platt
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- Erstellt: 11. September 2020
Von Rechtsanwältin Anna Fischer
Antwort:
Laut aktuellem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 27. Mai 2020 (Aktenzeichen: 5 AZR 387/19) besteht ein Auskunftsrecht des Arbeitgebers aus einer Nebenpflicht aus dem Arbeitsverhältnis gemäß § 242 BGB.
In dem zugrunde liegenden Fall stritten die Arbeitsvertragsparteien um die Zahlung von Annahmeverzugslohn. Der Kläger war bei der Beklagten als Bauhandwerker beschäftigt. Die Beklagte sprach gegenüber dem Kläger seit dem Jahr 2011 mehrere Kündigungen aus, unter anderem kündigte sie im Jahr 2013 das Arbeitsverhältnis außerordentlich fristlos und hilfsweise ordentlich. Der Kläger erhob gegen diese sowie gegen weitere vorangegangene Kündigungen Kündigungsschutzklagen, die er allesamt gewann. Das Arbeitsverhältnis der Parteien bestand daher fort. Dennoch zahlte die Beklagte seit dem Monat Februar 2013 keine Vergütung an den Kläger. Dieser machte daher klageweise Annahmeverzugslohn für die Zeit ab Februar 2013 unter Anrechnung von bezogenem Arbeitslosengeld und Arbeitslosengeld II geltend. Die Beklagte erhob im Rahmen des Klageverfahrens den Einwand, der Kläger habe es böswillig unterlassen, anderweitig einen Verdienst zu erzielen. Widerklagend machte sie daher Auskunft über die von der Agentur für Arbeit und dem Jobcenter in der Zeit vom Februar 2013 bis November 2015 dem Kläger unterbreiteten Stellenangebote Dritter geltend. Das Arbeitsgericht gab der Widerklage statt. Das Landesarbeitsgericht wies die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers zurück. Schließlich wies auch das Bundesarbeitsgericht die Revision des Klägers zurück. Zur Begründung führte das Bundesarbeitsgericht unter anderem Folgendes aus:
Die Beklagte (Arbeitgeber) hat einen Anspruch auf schriftliche Auskunft über die von der Agentur für Arbeit und dem Jobcenter dem Kläger unterbreiteten Vermittlungsvorschläge unter Nennung von Tätigkeit, Arbeitszeit, Arbeitsort und Vergütung. Grundlage dieses Auskunftsbegehrens ist eine Nebenpflicht des Klägers aus dem Arbeitsverhältnis gemäß § 242 BGB. Zwar besteht im Grundsatz keine nicht aus besonderen Rechtsgründen abgeleitete Pflicht zur Auskunftserteilung für die Parteien des Rechtsstreits. Abweichend hiervon kann allerdings nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) eine Auskunftspflicht bestehen. Diese Auskunftsansprüche können dann bestehen, wenn die Rechtsbeziehungen zwischen den Parteien es mit sich bringen, dass der Berechtigte in entschuldbarer Weise über den bestehenden Umfang seines Rechts im Ungewissen ist und der Verpflichtete die zur Beseitigung der Ungewissheit erforderliche Auskunft unschwer geben kann, ohne dass durch die Gewährung materiell-rechtlicher Auskunftsansprüche die Darlegungs- und Beweissituation im Prozess unzulässig verändert werden darf.
Der Auskunftsanspruch gemäß § 242 BGB setzt Folgendes voraus: Das Vorliegen einer besonderen rechtlichen Beziehung, die dem Grunde nach feststehende oder im vertraglichen Bereich zumindest wahrscheinliche Existenz eines Leistungsanspruchs des Auskunftsfordernden gegen den Anspruchsgegner, die entschuldbare Ungewissheit des Auskunftsfordernden über Bestehen und Umfang seiner Rechte sowie die Zumutbarkeit der Auskunftserteilung durch den Anspruchsgegner als abschließend auch die Vermeidung des Unterlaufens der allgemeinen Beweisgrundsätze durch die Zuerkennung des Auskunftsanspruchs.
Eine daher erforderliche Sonderrechtsbeziehung kann unter anderem auf einer vertraglichen Beziehung der Parteien beruhen oder auf der Abwicklung einer vertraglichen Beziehung. Im Rahmen des erforderlichen Leistungsanspruchs wird geprüft, ob derjenige, der Auskunft fordert, durch das Verhalten desjenigen, von dem er Auskunft verlangt, bereits in seinem bestehenden Recht so betroffen ist, dass nachteilige Folgen für ihn ohne die Auskunftserteilung eintreten können. Ist ein Vertragspartner zur Begründung von Einwendungen, die er gegenüber dem geltend gemachten Anspruch des anderen Vertragsteils geltend machen will, auf die Information durch den anderen angewiesen, genügt eine Wahrscheinlichkeit, dass die Einwendung begründet ist. Der Auskunftsberechtigte muss des Weiteren alle ihm zumutbaren Anstrengungen unternehmen, die Auskunft auf andere Weise zu erlangen. Für ihn darf kein anderer, näher liegender oder leichterer Weg zur Beseitigung seines Informationsdefizits bestehen. Die Auskunftserteilung ist dem Antragsgegner zumutbar, wenn die mit der Vorbereitung und Erteilung der Auskunft verbundenen Belastungen entweder nicht ins Gewicht fallen oder aber, obwohl sie beträchtlich sind, dem Schuldner in Anbetracht der Darlegungs- und Beweisnot des Gläubigers und der Bedeutung zumutbar sind und er hierdurch nicht unbillig belastet wird.
Im vorliegenden Fall waren die Voraussetzungen für den Auskunftsanspruch gegeben. Zwischen den Parteien bestand ein Arbeitsverhältnis. Der Arbeitgeber machte gegen den Anspruch des Arbeitnehmers auf Zahlung von Annahmeverzugslohn Einwendungen gemäß § 11 Nr. 2 KSchG geltend, für die er darlegungs- und beweisverpflichtet war. Hiernach muss sich der Arbeitnehmer auf das Arbeitsentgelt, das ihm der Arbeitgeber für die Zeit nach der Entlassung schuldet, das anrechnen lassen, was er hätte verdienen können, wenn er es nicht böswillig unterlassen hätte, eine ihm zumutbare Arbeit anzunehmen, wenn nach Entscheidung des Gerichts das Arbeitsverhältnis fortbesteht. Der Arbeitgeber war durch die vom Arbeitnehmer erhobene Zahlungsklage in seinen vertraglichen Rechten betroffen, da die Anrechnung eines etwaigen Verdienstes bereits die Entstehung des Annahmeverzugsanspruchs hindert. Das Gericht sah es des Weiteren als erwiesen an, dass die geforderte Wahrscheinlichkeit, dass die Einwendung böswillig unterlassener anderweitiger Arbeit begründet ist, besteht. Der Kläger hatte sich nach der Kündigung bei der Agentur für Arbeit suchend gemeldet. Diese ist dazu verpflichtet, Arbeitsvermittlung anzubieten. Das gilt auch für das Jobcenter. Anhaltspunkte dafür, dass die Behörden ihren gesetzlichen Aufgaben zur Arbeitsvermittlung nicht nachgekommen sind, bestanden nicht. Der Arbeitgeber konnte sich die Informationen auch nicht auf andere, zumutbare, rechtmäßige Weise beschaffen. Die Einschaltung eines Detektivs hätte nicht zu den gewünschten Informationen geführt. Die Agentur für Arbeit und das Jobcenter müssen dem Arbeitgeber gegenüber keine Angaben machen. Der Arbeitnehmer konnte die erforderliche Auskunft auch unschwer geben. Er kannte die ihm angebotenen Vermittlungsvorschläge. Durch den Auskunftsanspruch des Arbeitgebers wurde auch nicht die Darlegungs- und Beweissituation im Prozess unzulässig verändert. Denn lediglich durch die Information über die Vermittlungsvorschläge der Agentur für Arbeit und des Jobcenters wird nicht zwangsläufig der Einwand der Böswilligkeit des Unterlassens anderweitiger zumutbarer Arbeit begründet. Auch nach Erteilung der Auskunft ist der Arbeitgeber verpflichtet, seine Einwendung so zu begründen, dass sich der Arbeitnehmer im Wege abgestufter Darlegungs- und Beweislast hierzu einlassen kann.
Abschließend hat das Gericht somit entschieden, dass der Arbeitnehmer Auskunft über die Vermittlungsvorschläge unter Nennung von Tätigkeit, Arbeitszeit, Arbeitsort und Vergütung zu erteilen hat. Die Auskunft ist in Textform im Sinne von § 126 b Satz 1 BGB zu erteilen.
Es lässt sich daher festhalten, dass im Rahmen einer Klage auf Annahmeverzugslohn vom Arbeitnehmer Auskunft verlangt werden darf, ob er Vermittlungsvorschläge der Bundesagentur für Arbeit sowie des Jobcenters erhalten hat, um den Einwand des § 11 Nr. 2 KSchG zu untermauern.
Von Rechtsanwalt: Manfred v. Gizycki
Antwort:
In dieser Konstellation ist äußerte Vorsicht geboten. Das Bundesarbeitsgericht hat am 13. Februar 2020 (6 AZR 146/19) und jetzt mit neuerlichem Urteil vom 14. Mai 2020 (6 AZR 235/19) entschieden, dass der Betriebsbegriff des § 17 Abs. 3 KSchG (in dem die Massenentlassungsanzeige geregelt ist) unter Berücksichtigung der Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG auszulegen ist.
In dem entschiedenen Fall hatte die Air Berlin-Gruppe die Massenentlassungsanzeige am Hauptsitz in Berlin eingereicht. Geklagt hatte eine Arbeitnehmerin, die dem Betrieb Düsseldorf angehörte. Während die Vorinstanzen die Massenentlassungsanzeige nur am Standort Berlin für ausreichend erachteten, entschied das Bundesarbeitsgericht nun, dass die Arbeitsagentur in Düsseldorf hätte beteiligt werden müssen. Weil dies nicht geschehen ist, wurde die Kündigungserklärung aus Januar 2018 für unwirksam erklärt.
Zudem bemängelte das Bundesarbeitsgericht, dass bei der seinerzeit erstatteten Anzeige nur Angaben zum Cockpit-Personal gemacht wurden – korrekt wäre es gewesen, wenn alle Arbeitnehmer des örtlichen Betriebs erwähnt worden wären.
Auch diese Entscheidung zeigt wieder einmal auf, wie genau der Arbeitgeber bei der Erstellung einer Massenentlassungsanzeige handeln muss.
Von Rechtsanwalt: Tobias Wilkens
Antwort:
Höchstwahrscheinlich ja. Das LAG Hamm hatte in seinem Urteil vom 24. Juli 2019 (Az.: 5 Sa 676/19) diese Frage verneint. Die Entscheidung haben wir in unserer Rechtsfrage aktuell im November 2019 behandelt. Zwischenzeitlich hat sich das BAG mit zwei unterschiedlichen Fällen beschäftigt.
In dem ersten Fall verlangte eine dauerhaft erkrankte Arbeitnehmerin von ihrem Arbeitgeber die Abgeltung von Urlaub aus dem Jahr 2017. Der Arbeitgeber vertrat die Ansicht, dass der Urlaub bereits am 31. März 2019 endgültig verfallen war. Der Arbeitgeber hatte hierauf nicht vorher hingewiesen. Der Arbeitgeber hatte die Arbeitnehmerin auch nicht vorher aufgefordert, den Urlaub zu beantragen.
In dem zweiten Fall war ein Arbeitnehmer seit 2014 voll erwerbsgemindert und stritt sich mit seinem Arbeitgeber darüber, ob er noch 34 Urlaustage aus dem Jahr 2014 beanspruchen könne. Auch hier gab es keinen Hinweis auf den etwaigen Verfall der Urlaubsansprüche.
Das BAG hat die Fälle nun dem EuGH vorgelegt, mit der Frage, ob der Urlaubsanspruch nach Ablauf der 15-Monats-Frist oder ggf. einer längeren Frist verfällt, wenn der Arbeitgeber im Urlaubjahr den Arbeitnehmer nicht auf den drohenden Verfall hingewiesen hat, obwohl der Arbeitnehmer den Urlaub bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit zumindest teilweise hätte nehmen können.
Der EuGH wird sich also mit der Hinweispflicht auch bei Langzeiterkrankten auseinandersetzen. Es steht zu befürchten, dass der EuGH seine Entscheidung vom 6. November 2018, Az.: C-684/16 – wir berichteten bereits im Februar 2019 darüber – dahingehend ausweiten könnte, dass auch eine Unterrichtungspflicht bei Langzeiterkrankten gilt.
Es ist also vorsorglich zu empfehlen, dass Arbeitgeber ihre Langzeiterkrankten über die Urlaubsansprüche und deren Verfall (nachweisbar) informieren. Ansonsten könnten nicht unerhebliche Gewährungs- bzw. Abgeltungsansprüche entstehen.
Von Rechtsanwältin Anna Fischer
Antwort:
Nein – so führt es zumindest das BAG in seiner Pressemittelung zu seinem Urteil vom 18. März 2020 zum Aktenzeichen 5 AZR 36/19 aus. Hiernach sei eine betriebliche Regelung zur Pauschalierung von Fahrtzeiten unwirksam. Des Weiteren stellte das BAG klar, dass die Vergütungspflicht von Fahrtzeiten durch Betriebsvereinbarungen nicht eingeschränkt werden kann.
Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zu Grunde:
Der Kläger ist als Service-Techniker im Außendienst bei einem Unternehmen tätig, dass aufgrund der Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband an die Tarifverträge des Groß- und Außenhandelst Niedersachsen gebunden ist. Aufgrund einer dynamischen Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag finden diese Tarifverträge auf das Arbeitsverhältnis Anwendung. Bei dem Unternehmen gilt des Weiteren eine Betriebsvereinbarung zur flexiblen Arbeitszeit aus dem Jahr 2001. In dieser Betriebsvereinbarung ist unter anderem unter § 8 (An- und Abfahrtszeiten) Folgendes geregelt:
„Anfahrtszeiten zum ersten und Abfahrtszeiten vom letzten Kunden zählen nicht zur Arbeitszeit, wenn sie 20 Minuten nicht übersteigen. Sobald die An- oder Abreise länger als 20 Minuten dauert, zählt die 20 Minuten übersteigende Reisezeit zur Arbeitszeit. Insoweit sind für den Kundendienst-Techniker jeweils 20 Minuten Fahrtzeit für An- und Abreise zumutbar.“
Der Kläger wollte nunmehr durch seine Klage erreichen, dass ihm 68 Stunden und 40 Minuten Fahrtzeiten vergütet bzw. auf seinem Arbeitszeitkonto angerechnet werden.
Die Vorinstanzen (Arbeitsgericht Düsseldorf sowie LAG Düsseldorf) wiesen die Klage ab. Das LAG vertrat die Auffassung, dass ein Arbeitsvertrag grundsätzlich betriebsvereinbarungsoffen ausgestaltet sei. Somit können Regelungen einer Betriebsvereinbarung auch verschlechternd in Rechte eingreifen, die durch den Arbeitsvertrag begründet werden. Das LAG hielt die Regelung in der Betriebsvereinbarung des Unternehmens daher für wirksam. Das LAG führte weiter aus, dass es zwar in § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG einen so genannten Tarifvorbehalt gebe, wonach Arbeitsentgelt und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein können. In der Betriebsvereinbarung des beklagten Unternehmens seien jedoch weder die Vergütung noch die Wochenarbeitszeit geregelt, sodass kein Fall des Tarifvorbehaltes vorliege.
Anders als die Vorinstanzen hielt das BAG die Klage jedoch für begründet. Bei der Fahrtzeit handele es sich um vergütungspflichtige Arbeitszeit. Diese Vergütungspflicht werde auch nicht durch die Betriebsvereinbarung ausgeschlossen, da die Regelung wegen Verstoßes gegen den Tarifvorrang nach § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG unwirksam sei.
Der 5. Senat des BAG verwies darauf, dass nach dem geltenden Manteltarifvertrag sämtliche Tätigkeiten, die ein Arbeitnehmer in Erfüllung seiner vertraglichen Hauptleistungspflicht erbringen, mit dem tariflichen Grundlohn abzugelten seien. Bei Außendienstmitarbeitern gehöre hierzu die gesamte für An- und Abfahrten zum Kunden aufgewendete Fahrtzeit. Der Manteltarifvertrag enthalte keine Öffnungsklausel zu Gunsten abweichender Betriebsvereinbarungen, weshalb § 8 der Betriebsvereinbarung hinsichtlich der flexiblen Arbeitszeit wegen Verstoßes gegen die Tarifsperre unwirksam sei.
Es ist daher zu empfehlen, etwaige betriebliche Regelungen zu überprüfen und Abhilfe zu schaffen. Nach den klaren Vorgaben des BAG besteht für die Einschränkung der Verfügungspflicht von Fahrtzeiten kein Raum mehr. Ggf. sind dann die Zusatzkosten für Service-Leistungen vor Ort anzupassen oder Anfahrtspauschalen zu erhöhen. Des Weiteren sei noch auf das Urteil des BAG vom 25. April 2018 zu dem Aktenzeichen 5 AZR 424/17 hingewiesen. Hier hat der 5. Senat in einem anderen Zusammenhang klargestellt, dass durch Arbeits- oder Tarifvertrag eine gesonderte Vergütungsregelung für eine andere als die eigentliche Tätigkeit und damit auch für Fahrten zur auswärtigen Arbeitsstelle getroffen werden kann. Dementsprechend kann mit dem Arbeitnehmer bzw. mit der Gewerkschaft vereinbart werden, dass Zeiten der Anfahrt zum ersten und die Rückfahrt vom letzten Kunden keiner oder einer verringerten Vergütungspflicht unterliegt. Lediglich die Regelung im Rahmen einer Betriebsvereinbarung ist nicht möglich.